Ein Artikel von Dr. Johannes Hebenstreit, 5020 Salzburg

Das Prinzip „Treu und Glauben“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff der österreichischen Rechtsordnung. Gemeint ist damit das Verhalten eines redlichen und anständig handelnden Menschen. Der Grundsatz beherrscht ganz allgemein das Privatrecht und besagt letztlich, dass sich der rechtsgeschäftliche Verkehr ehrlich abspielen soll und nicht dafür missbraucht werden darf, jemand anderen hineinzulegen(1).

Es lassen sich keine präzisen und verbindlichen Regeln darüber aufstellen, in welchen konkreten Fällen ein Verstoß gegen Treu und Glauben anzunehmen ist, weil es immer auf die Umstände des Einzelfalles ankommt. Ganz generell kann aber gesagt werden, dass der Grundsatz ein Korrektiv dafür schafft, wenn jemand auf allzu formalistischen Standpunkten beharrt, Rechte missbräuchlich geltend macht oder sich entgegen der Verkehrssitte verhält.

Der OGH hat schon mehrfach betont, dass der Grundsatz von Treu und Glauben „im besonderen Maße“ auch im Versicherungsrecht gilt(2). Diese starke Betonung soll der Tatsache Rechnung tragen, dass im Versicherungsrecht jeder der beiden Vertragspartner auf den anderen angewiesen ist, weil er auf bestimmte Weise dem jeweils anderen unterlegen ist: Der Versicherungsnehmer verfügt zB allein über die Kenntnis wesentlicher Umstände für den Vertragsabschluss und die Schadensabwicklung; der Versicherer hingegen ist dem Versicherungsnehmer an Erfahrung überlegen sowie auch durch die Beherrschung der Versicherungstechnik und die Verfügbarkeit von Sachverständigen(3). Drei exemplarische Entscheidungen sollen zeigen, was all Treu und Glauben in der Praxis bedeutet:

In der Unfallversicherung sind nach Art 7 AUVB Ansprüche auf Leistung für dauernde Invalidität innerhalb von 15 Monaten unter Vorlage eines ärztlichen Befundberichts geltend zu machen. Erachtet ein Versicherer eine Schadensmeldung als unzureichend, wartet allerdings den Fristablauf ab und informiert erst dann den Versicherungsnehmer, so dass dieser die Schadensmeldung nicht mehr ergänzen kann, so wertet dies der OGH als einen Verstoß gegen Treu und Glauben(4).

Einen solchen Verstoß hat der OGH auch angenommen, als ein Versicherer die Deckung eines Haftpflichtschadens ablehnte, weil im Schadenszeitpunkt knapp 2 % der Prämie offen waren, zuvor aber jahrelang alle Zahlungspflichten pünktlich erfüllt worden waren(5).

Die Einhaltung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist auch dann zu prüfen, wenn sich ein Versicherer auf Leistungsfreiheit infolge Obliegenheitsverletzungen beruft. Es ist nämlich anerkannt, dass Obliegenheitsverletzungen, durch die nach menschlichem Ermessen die Interessen des Versicherers schon abstrakt in keiner Weise gefährdet werden können, außer Betracht bleiben, weil damit die Erfüllung der Obliegenheit zwecklos ist(6).

  1. OGH vom 07.10.1974, 1 Ob 158/74.
  2. RIS-Justiz RS0018055.
  3. OGH vom 18.02.2015, 7 Ob 225/14k.
  4. Vgl. die Entscheidung in FN 3.
  5. OGH vom 19.10.1989, 7 Ob 39/89.
  6. OGH vom 10.06.2015, 7 Ob 70/15t.

Diesen Artikel als PDF herunterladen.